Einleitung

In „Das Haus am See“ versammelt der rätselhafte Walter zehn seiner engsten Freunde für einen vermeintlichen Traumurlaub in einer atemberaubenden Villa an einem idyllischen See. Die Feierlaune vergeht jedoch jäh, als sie die schockierende Wahrheit erfahren: Während sie in luxuriöser Isolation sind, ist der Rest der Menschheit einer apokalyptischen Katastrophe zum Opfer gefallen. Sie sind die letzten Überlebenden – oder die auserwählten Gefangenen in einem perfekt inszenierten Gefängnis. Schnell wird beim Lesen klar: Dies ist keine Action-Apokalypse, sondern ein psychologisches Experiment. Der erste Blick auf das Cover und die inneren Illustrationen vermittelte sofort ein Gefühl von unheilvoller Erwartung auf das, was in der Story wartet. Dass dies keine konventionelle Geschichte wird, wird direkt vermittelt, stattdessen wird der Fokus auf die Charaktere, ihre inneren Kämpfe und Emotionen gelegt – eine Geschichte mit beklemmender Atmosphäre. Dies war eindeutig keine konventionelle Superhelden-Geschichte, sondern ein werk, das literarische Ansprüche mit grafischer Kunst verbindet. Ich erwartete eine dichte, charaktergetriebene Geschichte mit einer beklemmenden Atmosphäre des Unbehagens, die unter die Haut geht.

Inhalt (ohne Spoiler!)

Die Geschichte verzichtet bewusst auf einen einzigen Helden. Stattdessen wird das Kollektiv der zehn Gäste in den Mittelpunkt gestellt, jeder davon mit einer klar definierten Berufung und Persönlichkeit – von der Schriftstellerin über den Wissenschaftler bis zum Künstler. Der Fokus liegt auf ihrer Gruppendynamik, ihren gemeinsamen Vergangenheiten mit Walter und den individuellen Wegen, wie sie mit der unvorstellbaren Situation umgehen. Der Leser wird Zeuge, wie ihre Freundschaften unter dem enormen Druck der Isolation und des Misstrauens brechen. Die „Welt“ ist auf zwei Ebenen angesiedelt. Da ist zum einen die unberührte, fast schon surreale Mikrowelt des Hauses und seiner Umgebung: eine architektonische Meisterleistung mit allem erdenklichen Komfort, eingebettet in eine postkartenreife Landschaft mit mysteriösen Statuen und Symbolen. Zum anderen gibt es die Welt „draußen“, die die Charaktere nur aus fragmentarischen Nachrichten und Bildschirmen kennen – eine Welt, die gnadenlos der Zerstörung zum Opfer gefallen ist. Ebenso spiegelt sich die erzählerische Darstellung auf beiden Ebenen: Die Gegenwart innerhalb des Hauses am See und die Rückblicke in die Welt „dort draußen“. Der primäre Antrieb der Handlung ist die obsessive Suche nach dem „Warum“. Warum hat Walter, der sich als nicht-menschlich entpuppt, sie ausgewählt? Was ist der wahre Zweck dieses Experiments? Ist es Rettung oder Beobachtung? Dieser äußere Konflikt ist untrennbar mit den inneren Konflikten verbunden: dem Aufkeimen von Paranoia, der Auflösung von Vertrauen und dem Kampf zwischen Komfort und dem Willen, die Wahrheit zu erfahren – koste es, was es wolle.

Meine Meinung

Der Schreibstil von James Tynion IV im ersten Moment vielleicht gewöhnungsbedürftig und nicht immer einfach zu verstehen. Er vertraut darauf, dass der Leser die Zwischentöne und Andeutungen in den Gesprächen der Charaktere erfasst. Es gibt keine langen Beschreibungen, denn diese Arbeit übernehmen die Bilder. Stattdessen konzentriert sich der Text auf die psychologische Tiefe und die zwischenmenschlichen Machtspiele. Die Handlung wird nicht linear erzählt, sondern nutzt geschickt Rückblenden, um die Beziehungen der Gruppe zu Walter in der Welt „davor“ zu beleuchten und so die Tragweite der „Nachher“-Situation umso schmerzhafter zu machen. Zwischenzeitlich werden auch immer E-Mail-Verläufe, Fotografien und andere Informationen aus dem „Off“ eingeworfen. Die große Besetzungszahl an Charakteren ist anfangs eine Herausforderung, doch Tynion gelingt es erstaunlich schnell, jedem Charakter eine unverwechselbare Stimme und persönliche Dämonen zu verleihen. Man fiebert nicht nur mit, man beginnt, ihre Ängste und Motivationen zu verstehen, auch wenn ihre Entscheidungen oft schwerwiegend und moralisch ambivalent sind. Die Beziehung zu Walter ist das Herzstück: Ist er ihr Freund, ihr Gefängniswärter oder beides? Besonders gut gefallen hat mir das Zusammenspiel der Story, der Stimmung und den grundlegenden Zeichenstil. Álvaro Martínez Buenos Art ist nicht nur dekorativ, sondern narrativ. Der gesamte Stil wirkt absolut psychedelisch und ich kann mir vorstellen, dass genau das ein Punkt ist, der auch abschreckend wirken könnte. Es wird mit feinen Nuancen gearbeitet wie der visuelle Stilbruch in Walters Erscheinung, um seine wahre Natur eben auch bildlich darzustellen.

Fazit

Diese Graphic Novel ist ein Muss für alle, die anspruchsvolle Science-Fiction und Horror Elemente jenseits des Mainstreams schätzen und bereits sind sich mit komplexen und vor allem vielen einzelnen Charakteren auseinander zu setzen. Mein persönliches Highlight ist die andauernd bedrückende Atmosphäre. Es ist dieses Gefühl, dass unter der Oberfläche der Schönheit und des Luxus etwas zutiefst Falsches und Unnatürliches lauert. Ein wenig abschreckend fand ich tatsächlich die absolute Menge an Charakteren, die alle einzeln und wirklich ausführlich eingeführt werden. Was auf der einen Seite eine gute Backstory generiert, auf der anderen Seite jedoch verursacht hat, dass ich öfter zurück blättern musste.