James Tynion IV
Das Haus am Meer
DC Schocker, Band 1 (von 2)
Fortsetzung von „Das Haus am See“
Kurzbewertung
Handlung & Spannung:
Idee & Originalität:
Cover & Aufmachung:
Charaktere & Entwicklung:
Schreibstil & Sprache:
Gesamtbewertung:
Einleitung
Für ein volles Verständnis von „Das Haus am Meer“ ist die Lektüre des ersten Bandes „Das Haus am See“ unbedingt zu empfehlen. Andernfalls bleibt unklar, was genau passiert, wer die handelnden Figuren sind und wie es überhaupt zu der geschilderten Situation gekommen ist, da dies nicht noch einmal gesondert von vorne aufgerollt wird. Zwar wird mit „Teil 1 von 2“ geworben, doch dies ist kein eigenständiger Neuanfang, sondern die unmittelbare Fortsetzung einer bereits in Gang gesetzten Handlung. In „Das Haus am See“ lud der rätselhafte Walter seine alten Freunde in eine luxuriöse Villa am See ein, eine zunächst fast idyllische Atmosphäre, die jäh zerbrach, als draußen die Welt in Flammen aufging. Walter entpuppte sich als nicht-menschliches Wesen, und seine Gäste wurden zu Versuchspersonen in einem beispiellosen Experiment über Moral und Überleben.
„Das Haus am Meer“ führt dieses Konzept konsequent fort und steigert es in seinem Umfang und seiner Verworrenheit. Es stellt sich heraus, dass das Haus am See nur eines von mehreren solcher Refugien war, in denen andere Gruppen von Auserwählten auf ähnliche Weise isoliert und kontrolliert werden.
Inhalt (ohne Spoiler!)
Die Erzählung springt beständig zwischen den Schauplätzen, Zeitebenen und Perspektiven, mitunter innerhalb weniger Seiten. Diese Erzählweise erfordert eine Menge an Aufmerksamkeit und ist auch nichts, was sich abends gerade nebenbei lesen lässt. Viele Figuren, die im ersten Band noch im Hintergrund standen, gewinnen hier deutlich an Tiefe und Präsenz. Man beobachtet, wie alte Loyalitäten bröckeln und neue, ungewisse Bündnisse entstehen. Zugleich drängt sich weiterhin die Frage nach Walters wahren Absichten auf: Wollte er die Menschheit retten oder kontrollieren? Oder war es ihm am Ende nur darum zu tun, an den alten Freundschaften festzuhalten – ein deutlicher Kontrast zu der neu eingeführten Gruppe im anderen Haus, die sich vor der Apokalypse nicht kannte und beim jetzigen Überleben wenig Skrupel zeigt.
Der Spannungsbogen ist stark ausgeprägt, verlangte mir deshalb ein hohes Maß an Konzentration ab. Mehrmals musste ich zurückblättern, um die Zusammenhänge vollständig zu erfassen. Die Geschichte setzt nicht auf billige Schockmomente, sondern arbeitet mit moralischem Druck, psychologischer Enge und einem steten Gefühl der Bedrohung. Besonders gut gelungen ist die Weiterentwicklung des Themas Verantwortung: Wer entscheidet über das Schicksal anderer, wenn die alte Welt nicht mehr existiert? Und was bedeutet Menschlichkeit in einem künstlich geschaffenen Mikrokosmos?
Meine Meinung
Das Rückgrat dieser Reihe bilden nach wie vor ihre Charaktere. Tynion IV zeichnet sie nicht als Helden, sondern als widersprüchliche und häufig überforderte Menschen. Keiner von ihnen hat den Durchblick, jeder kämpft mit seiner eigenen Schuld, Angst oder seinem Streben nach Bedeutung. Walter selbst bleibt das größte Rätsel – eine Figur, die gleichzeitig Mitleid, Wut und Faszination hervorruft, obwohl er physisch kaum in Erscheinung tritt, sondern über Rückblicke und Erinnerungen eingebunden ist. Sein Einfluss verdichtet sich in diesem Band jedoch spürbar.
Optisch ist der Comic ein eindrucksvolles Erlebnis, sein Stil ist für mich persönlich jedoch auch herausfordernd und wirkt psychedelisch. Oft musste ich durch die Farbgebung und Bildsprache genau hinschauen, um zu erkennen, wer gerade spricht oder handelt. Die dichten, fast nervösen Linien passen perfekt zur Atmosphäre, erschweren aber bisweilen die Orientierung. Besonders in „Das Haus am Meer“, wo zwei Häuser und viele Figuren parallel agieren, kann dies anstrengend sein. Nichtsdestotrotz wirken die Seiten wie Alpträume in Bewegung – düster, elegant und emotional aufgeladen. Jede Szene trägt eine eigene Schwere in sich, die den Text ideal ergänzt. Die gedämpfte, wie durch Wasser gefilterte Farbgebung unterstreicht das Gefühl, in einer schönen, aber zutiefst unnatürlichen Welt gefangen zu sein.
Fazit
„Das Haus am Meer“ ist kein Comic für nebenbei. Er verlangt Geduld, Konzentration und die Bereitschaft, sich auf ein vielschichtiges Gedankenspiel über Moral, Macht und das Ende der Welt einzulassen. Die Handlung ist komplex und nicht immer leicht zu durchdringen, doch genau darin liegt ihr Reiz. Der Zeichenstil ist anspruchsvoll, doch die visuelle Unruhe spiegelt meisterhaft den inneren Zustand der Geschichte wider. Für mich ist es ein atmosphärisch dichtes, klug durchdachtes Werk, das mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet. Ich bleibe gespannt, wie es weitergeht und ob die Häuser sich letztlich bekriegen oder einen Weg des Miteinanders finden.